Vortrag und Gespräche mit Professor Sebastian Kurtenbach am 05.06.2025
Kinder – Minderheit ohne Schutz
Von Mechthild Wiesrecker, in Westfälischer Anzeiger, 07.06.2025
Babyboomer als große Chance – Situation von Kindern Thema in der „Akademie Gegenwart"
Walstedde – Wie leben Kinder und Jugendliche heute in Deutschland, was sind ihre größten Probleme und wie kann man ihnen helfen? Mit diesen Fragen beschäftigte sich Professor Dr. Sebastian Kurtenbach am Donnerstagabend in seinem Vortrag „Kinder – Minderheiten ohne Schutz. Aufwachsen in einer alternden Gesellschaft" im Rahmen der „Akademie Gegenwart" im Hotel „Leib&Seele".
„Ihr Thema passt genau hierhin", begrüßte der Kinderneurologe Dr. Bernd Dietz den Politikwissenschaftler der Universität Münster, der die Situation von Kindern in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Diskurses stelle.
„Das ist kein Gute-Laune-Vortrag", leitete Kurtenbach ein. Eine alternde Gesellschaft sei weder kindgerecht noch gerecht gegenüber Kindern. Er schilderte dies am Beispiel eines Jugendlichen des Jahrgangs 2007: aufgewachsen mit der Flüchtlingskrise, der Pandemie, dem Krieg in der Ukraine – und nun zum 18. Geburtstag mit der Debatte über die Wehrpflicht konfrontiert. All das bei gleichzeitiger Erfahrung überforderter Schulen und Erwachsener. „Jugendliche kennen es nicht, dass in Deutschland einfach alles funktioniert."
Auch ihre Zukunftsaussichten hätten sich verschlechtert: Wohneigentum sei selbst für Gutverdienende kaum erreichbar, Klimakrise und unsichere Renten belasteten zusätzlich. Die Gesellschaft sei in dreifacher Schieflage: demografisch, denn es leben doppelt so viele 60-Jährige wie Sechsjährige, demokratisch, denn Kinder haben wenig Einfluss, und sozialstaatlich, denn das Bildungssystem sei überlastet.
„Das Schulsystem ist im freien Fall", so Kurtenbach. 40 Prozent der Kinder hätten einen Migrationshintergrund, doch Lehrkräfte seien auf die wachsende sprachliche und religiöse Vielfalt nicht vorbereitet. 50 000 Kinder verließen jährlich die Schule ohne Abschluss. „Das können wir uns nicht leisten – wir brauchen jedes Kind."
Kurtenbach schlug vor: Community-Zentren neben Schulen, in denen sich Vereine, Ehrenamtliche und OGS gemeinsam einbringen. Große Chancen sieht er in der Boomer-Generation: „Noch nie gab es so viele gebildete, technikkompetente und gesunde Menschen im Rentenalter. Wenn sich nur zehn Prozent für Kinder engagieren, wären das mehr als alle Lehrer und Erzieher zusammen." Ein positiver Nebeneffekt: Engagement stärke auch das eigene Wohlbefinden.
Zudem plädiert Kurtenbach für einen Zukunftsrat mit jungen Menschen zwischen zehn und 35 Jahren, denen politische Vorhaben zur Stellungnahme vorgelegt werden. Sein wichtigster Rat: „Mit Kindern reden, ihnen zuhören – und sie fragen,was sie wollen."
Trotz aller Herausforderungen zeigte sich Prof. Kurtenbach zum Schluss optimistisch – auch, weil das Verständnis zwischen den Generationen heute besser sei als je zuvor.