Lesung und Vortrag von Navid Kermani am 28.11.2024
„Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott"
Von Mechthild Wiesrecker, in Westfälischer Anzeiger, 01.12.2024
Walstedde. Der preisgekrönte Schriftsteller und habilitierte Orientalist Navid Kermani zog am Donnerstagabend rund 90 Besucher ins Bistro des Hotels Leib & Seele. Im Rahmen einer Veranstaltung der Akademie Gegenwart las er aus seinem Buch „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näherkommen. Fragen nach Gott".
Den Abend eröffnete zunächst Diplom-Psychologin Rita Linnebank mit einer Einführung in Kermanis Buch. Sie schilderte, wie das Buch sie als Christin gleichermaßen zum Schmunzeln wie zum Nachdenken gebracht habe. „Das Werk zeigt auf beeindruckende Weise die Verbindung aller Religionen in den grundlegenden Fragen des Lebens", betonte Linnebank und hob hervor, dass Kermanis Begeisterung für die Schönheit Gottes und für die Poesie des Korans ansteckend wirke. Spiritualität, so Linnebank, sei gerade in Krisenzeiten eine wertvolle Ressource.
Kermani begann seinen Vortrag mit der Entstehungsgeschichte seines Buches, das auf einem Versprechen an seinen Großvater basiert – einem gläubigen und gelehrten Muslim. „Religion ist die Beziehung zwischen dem Endlichen, und dem Unendlichen (Gott) und jeder Mensch trägt das Göttliche in sich." Abend für Abend habe er seiner Tochter von der Religion ihrer Vorfahren erzählt. Sein Großvater habe das Leben als ein Wunder betrachtet, das über rein chemische Prozesse hinausgehe. „Da ist jemand, der alles in Gang setzt", habe er geglaubt. Manche behaupteten, das Leben ende im Nichts, das sah der Großvater anders. Kinder, so Kermani, verstünden das intuitiv: „Etwas, das existiert, verschwindet nicht einfach." Deshalb zweifeln sie auch nicht am Sinn des Lebens.
Durch die Konfrontation mit dem Tod, verändere sich die Wahrnehmung, kämen existentiellen Fragen: „Was war davor und was kommt danach." Der Koran und andere Religionen sehe das wie die Kinder: „Es geht irgendwie weiter." Der Ursprung der Religionen sei das Staunen über die Wunder des Lebens, die Unendlichkeit, die nicht begreifbar sei, die Vielfalt des Lebens, in dem selbst kein einzelnes Blatt einem anderen gleiche.
Ein Zuhörer wollte wissen, ob tatsächlich alle Fragen im Buch von seiner Tochter stammten. Kermani erklärte, dass gerade die komplexen Fragen tatsächlich von ihr kämen, während die eher einfachen Reflexionen oft von ihm stammten. „Das Buch hat seine Eigendynamik entwickelt, ist aber im Wesentlichen ein Dialog zwischen Vater und Tochter geblieben."
Seine Weisheit basiere auf dem, was ihm sein frommer Großvater gelehrt habe. „Mein Buch ist kein dogmatischer Zugang zum Islam, sondern spiegelt den Glauben wieder, wie er im Alltag der einfachen Menschen gelebt wird." Dabei gehe er auch schwierigen Themen wie Ungerechtigkeit und Gewalt nicht aus dem Weg. Besonders faszinierend seien die Parallelen zur modernen Quantenphysik, die zeigten, dass sich Materie letztlich in immaterielle Bestandteile auflöse. „Manche Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von Geist", erläuterte er. So nähere man sich wieder alten philosophischen Überzeugungen, dass die innere Welt letztlich geistiger Natur sei und von unglaublicher Schönheit. „Gott ist nichts, woran du glaubst, sondern etwas, was du erkennst", fasste Kermani zusammen.
Zum Abschluss las der Autor auf Wunsch der Besucher ein Kapitel aus seinem neuesten Werk „In die andere Richtung jetzt: Eine Reise durch Ostafrika".